Sie legen sich mit einem mexikanischen Drogenkartell an: Anonymous will Mitglieder und Helfer der Kriminellen beim Namen nennen. Ein potentiell tödliches Unterfangen für alle Beteiligten. Ob die Internet-Aktivisten ihre Drohung wahr machen können, ist allerdings unklar.
Sie gehen mit Gewalt gegen ihre Gegner vor, bis hin zum Mord: Das mexikanische Drogenkartell Los Zetas, ursprünglich als paramilitärische Kampfgruppe des Golf-Kartells gegründet und mittlerweile eigenständig, könnte als nächstes zum Gegenschlag gegen das Internet-Kollektiv Anonymous ausholen. Davor warnt Ben West von Stratfor, einer Firma, die ihre Kunden mit strategischen Analysen versorgt. Bewaffnete Gangster gegen Online-Aktivisten?
Im Extremfall könnte das die Folge eines kurzen Videoclips sein. Im Namen von Anonymous Veracruz hatten Unbekannte die Zetas aufgefordert, einen angeblich entführten Mitstreiter unverzüglich freizulassen. Ansonsten würden sie am 5. November damit beginnen, die Identitäten von Kartellmitgliedern und Helfern zu veröffentlichen, darunter Taxifahrer, Journalisten und Polizisten. Die anonyme Drohung verbreitete sich schlagartig im Netz und fand ein breites Medienecho.
Ein Beamter der US-Drogenfahndung DEA sagte dem "Houston Chronicle", die Kriminellen müssten die Drohung ernst nehmen. Rivalisierende Gruppen würden veröffentlichte Namen zu nutzen wissen. Der Drogenkrieg hat in dem Land seit 2006 über 44.000 Menschen das Leben gekostet. In der Stadt Veracruz im Osten Mexikos waren im vergangenen Monat 32 Leichen gefunden worden, eine Gruppe Paramilitärs namens "Matazetas" bekannte sich zu den Morden, sie sieht sich als bewaffneter Arm des Volkes und kämpft gegen die Drogenbande.
Haben sich die selbsternannten Online-Rächer übernommen? Als Vorgeschmack auf den Online-Pranger hackten Unbekannte die Website eines ehemaligen mexikanischen Staatsanwalts und beschuldigten ihn, ein Zeta-Mitglied zu sein. Aktivisten protestieren als Teil der Occupy-Bewegung gegen die Wall Street, stellen mutmaßliche Pädophile bloß - und legen sich nun mit einem Drogenkartell an, gegen das die Behörden in den USA und Mexiko scheinbar machtlos sind - eine schöne Geschichte. Zu schön?
Unklarheit über die Entführung
Als Reaktion auf die losgetretene Lawine bemühten sich Anonymous-Aktivisten in den vergangenen Tagen zunächst, die "Operation Cartel" zu stoppen. So erklärten "Skill3r" und "Glyniss Paroubek" in der mexikanischen Zeitung "Milenio", man werde die Aktion abblasen und nicht verantwortungslos Menschenleben gefährden. Gemeint waren damit die Personen, die enttarnt werden sollten.
Der Aktivist, der sich in der Gewalt der Zetas befinden soll, rückt dabei immer mehr in den Hintergrund. Wohl auch, weil es bisher keine eindeutigen Hinweise auf eine Entführung gibt, nur eine Behauptung. Demnach soll eine Person beim Verteilen von Flyern - im Anonymous-Jargon "Paperstorm" genannt - von den Kriminellen geschnappt worden. Eine Bestätigung dafür steht noch aus.
Nach internen Diskussion halten Anonymous-Aktivisten nun allerdings am ursprünglichen Plan fest - der Rückzug wird zur Einzelmeinung erklärt. Es habe eine entsprechende Abstimmung gegeben, berichtet der ehemalige Anonymous-Sprecher Barrett Brown. Einige der Aktivisten würden im Einflussgebiet der Zetas leben, unter anderem in Veracruz und Nuevo Leon - und hätten beschlossen, trotzdem weiterzumachen.
Ohnehin könnten Aktivisten im Namen von Anonymous handeln - das Drogenkartell weiß damit aber noch nicht, wer hinter einer solchen Aktion steckt. Potentiell könnte damit jeder Anonymous-Anhänger zur Zielscheibe werden. Wer es aber wagt, die sich untereinander bekriegenden Drogenkartelle öffentlich zu kritisieren oder bloßzustellen, riskiert in Mexiko den Tod.
Lebensgefährliche Gerüchteküche
Drei Menschen wurden im August und September deswegen offenbar von Kartellmitgliedern ermordet. "Das wird allen widerfahren, die merkwürdige Dinge im Netz veröffentlichen", stand auf einem Pappschild, das auf einer Brücke in der Grenzstadt Nuevo Laredo am Rio Bravo gefunden wurde. Von der Brücke baumelten zwei Leichen. Ben West von Stratfor berichtet von einem weiteren Fall, ebenfalls in Nuevo Laredo. Dort sei eine geköpfte Frau gefunden worden, die in Blogs gegen Kartelle angeschrieben hatte.
Die Anonymous-Aktivisten sollten nach Ansicht von West nicht all zu sorglos sein. Es gebe Hinweise darauf, dass Drogenkartelle Hacker für Online-Kriminalität beschäftigten, so West. Seine Schlussfolgerung: Es sei nur logisch, dass die Banden ihre Computerexperten einsetzen würden, um die Identität von Bloggern und Hackern zu ermitteln. Wer so aufgespürt wird, müsse damit rechnen, entführt, verletzt oder getötet zu werden.
In der Vergangenheit haben sich Anonymous-Operationen bereits gegen mächtige Organisationen gerichtet, die nicht nur mit juristischen Mitteln zurückschlagen. Doch Hacker- und Überlastungsangriffe auf Webserver autoritärer Regime wie Tunesien, Syrien oder Iran lassen sich aus dem Ausland vergleichsweise gefahrlos handhaben. In Mexiko sind Anonymous-Sympathisanten vor Ort - die weiße Guy-Fawkes-Maske könnte somit zur Zielscheibe werden.
Auf der Website von Anonymous IberoAmerica wird nun trotzdem zur gemeinsamen Recherche aufgerufen - und um Hinweise gebeten. Das Ergebnis könnte eine lebensgefährliche Gerüchteküche sein.
[quelle]http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,795642,00.html[/quelle]
Update:
Anonymous wird nun doch keine Kollaborateure des Zeta-Drogenkartells outen. Das Hackerkollektiv hatte dies angekündigt, um die Freilassung eines der Ihren zu erzwingen. Der Gekidnappte ist offenbar wieder frei - und das Kartell droht mit Massenmord.
Info
Hamburg - Der von dem Drogenkartell verschleppte Anonymous-Aktivist soll sich in einem Internet-Chat-Channel selbst gemeldet haben, nachdem er freigelassen wurde. Ein Mann, der eigenen Angaben zufolge einer der Gründer des lateinamerikanischen Anonymous-Arms ist, sagte SPIEGEL ONLINE, der Mann habe sich im Chat als der Freigelassene zu erkennen gegeben und seine Identität mit Wissen über Namen und Ereignisse untermauert. Dann habe er eine Warnung weitergegeben: Wenn nun dennoch Namen oder andere Informationen über Zuträger oder Angehörige des Zeta-Kartells veröffentlicht würden, würden zehn Mitglieder seiner Familie getötet. Das hätten seine Kidnapper ihm angedroht. Im Blog "Anonymous Iberoamerica" wurde sogar berichtet, die Zetas hätten gedroht, für jeden einzelnen veröffentlichten Namen zehn Menschen zu töten.
Anonymous hatte ursprünglich angekündigt, Namen und andere Informationen über Kollaborateure des Zeta-Drogenkartells zu veröffentlichen, falls der Mann nicht freigelassen werden sollte. Am 5. November werde man damit beginnen, die Identitäten von Kartellmitgliedern und ihren Helfern zu veröffentlichen, darunter Taxifahrer, Journalisten und Polizisten. Die anonyme Drohung verbreitete sich schlagartig im Netz und fand ein breites Medienecho.
"Die Narcos waren nicht das Ziel"
Die Freilassung betrachte man als Sieg, die angedrohte Veröffentlichung von inkriminierenden Informationen unterbleibe, so der Anonymous-Insider. Die Informationen entstammen offenbar einem größeren Datenschatz: Man habe schon vor Monaten eine Datenbank mit E-Mails von Regierungsbeamten gehackt, erklärte der Mann im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Diese Zehntausende Mails umfassende Datenbank werde derzeit nach Hinweisen auf Korruption in Mexikos Verwaltung und Regierung untersucht.
Darin fänden sich auch Hinweise über Kontakte von Beamten zum Zeta-Kartell. Nun werde man sich wieder auf das eigentliche Ziel konzentrieren, die Bloßstellung korrupter Regierungsmitglieder und Beamter. "Die Narcos waren nicht das Ziel", so der anonyme Insider. Die E-Mails enthielten beispielsweise Hinweise, dass mexikanische Senatoren Geld angenommen hätten, um die Zahlenden vor Strafverfolgung zu schützen. Ende Dezember würden die Ergebnisse voraussichtlich veröffentlicht.
Vier freigelassen, einer tot?
Über die angekündigte Veröffentlichung der Zeta-Informationen hatte es auch innerhalb von Anonymous heftige Diskussionen gegeben. Die Veröffentlichung von Namen würde Menschenleben gefährden, mahnten die Kritiker. Tagelang war unklar, ob man die Drohung wahrmachen würde oder nicht. Die Entscheidung bleibt den lateinamerikanischen Anonymi nun erspart.
Der jetzt Freigelassene war offenbar in der Küstenregion Veracruz bei einer Flugblattaktion gegen ein geplantes Sportstadion gekidnappt worden - angeblich gemeinsam mit vier anderen Personen. Der anonyme Insider berichtete SPIEGEL ONLINE, vier der fünf seien freigekommen, einer sei offenbar tot.
Die mexikanischen Behörden äußerten sich nicht zu dem Fall und hatten bereits zuvor erklärt, keine Bestätigung für die Entführung des Hackers zu haben. Die US-Sicherheitsberatungsfirma Stratfor hatte Anfang Oktober ein Video veröffentlicht, in dem ein maskiertes mutmaßliches Anonymous-Mitglied mit der Veröffentlichung der Machenschaften der Zetas droht, wenn sein Kollege nicht freigelassen werde.
Die Zetas gehören zu den mächtigsten und brutalsten Drogenkartellen in Mexiko. Seit die Regierung den Drogenbanden im Jahr 2006 den Kampf angesagt hatte, kamen im mexikanischen Drogenkrieg schätzungsweise mehr als 45.000 Menschen ums Leben.
Drei Menschen wurden im August und September offenbar von Kartellmitgliedern ermordet, weil sie die Drogenmafia öffentlich kritisiert hatten. "Das wird allen widerfahren, die merkwürdige Dinge im Netz veröffentlichen", stand auf einem Pappschild, das auf einer Brücke in der Grenzstadt Nuevo Laredo am Rio Bravo gefunden wurde. Von der Brücke baumelten zwei Leichen. Ben West von Stratfor berichtet von einem weiteren Fall, ebenfalls in Nuevo Laredo. Dort sei eine geköpfte Frau gefunden worden, die in Blogs gegen Kartelle angeschrieben hatte.
[quelle]http://www.spiegel.de/netzwelt…tik/0,1518,795996,00.html[/quelle]