Der Tod des PC ist ein schlimmerer Verlust, als wir in unserer neuen mobilen Netzwelt ahnen, behauptet der Netztheoretiker Jonathan Zittrain. Gegen die faktische Zensur durch das App-Konzept erscheint die Geschäftspolitik von Microsoft in den neunziger Jahren heute geradezu harmlos. Ein Essay.
Angesichts der wachsenden Zahl von mobilen, leichten, Cloud-basierten Computern muss man feststellen: Der PC ist tot. Doch dieser Wandel ist mehr als nur der Sieg einer anderen Form von Rechnern. Vielmehr erleben wir derzeit eine beispiellose Machtverschiebung: weg von Nutzern und Software-Entwicklern, hin zu Herstellern von Betriebssystemen. Selbst diejenigen, die am PC festhalten, bleiben davon nicht unberührt. Daran ist wenig Positives – die negativen Konsequenzen überwiegen.
Im Kern handelt es sich um eine Verschiebung von Produkten zu Dienstleistungen. Plattformen wie Betriebssysteme, die früher einfach gekauft wurden, sind zu einer Dauerbeziehung zwischen Nutzern und Softwareentwicklern auf der einen und Herstellern auf der anderen Seite geworden.
Jahrzehntelang haben wir Allzweck-PCs gekauft. Auf ihnen liefen Betriebssysteme, die sich um die Grundfunktionen eines Rechners kümmerten. Jeder konnte Software dafür schreiben, und das Ergebnis waren unzählige Browser, Spiele, Chatwerkzeuge, Büro-, Mail- oder sonstige Programme. Manche waren genial, andere lächerlich, einige sogar gefährlich. Aber das hing vom Geschmack und vom Verstand eines Nutzers ab, unterstützt vielleicht nur noch vom Nerd nebenan oder einer Antivirus-Software.
Sich für ein Betriebssystem zu entscheiden, hatte etwas Wagemutiges. Weil Software für ein bestimmtes Betriebssystem geschrieben war, hatte man sich mit diesem auf eine bestimmte Auswahl festgelegt. Auch wenn es manche Programme für verschiedene Betriebssysteme gab, bedeutete ein Wechsel des Betriebssystems, dass man sich eine Menge Programme neu kaufen musste.
Das war ein Grund, warum wir über mehr als zwei Jahrzehnte ein alles beherrschendes Betriebssystem hatten. Die Leute hatten Windows auf ihrem Rechner, also wollten die Entwickler Windows-Software schreiben, was noch mehr Leute Windows-PCs kaufen ließ und so weiter. In den 1990ern strengten die US-Regierung und die EU-Kommission schließlich legendäre und heute schon fast vergessene Monopolklagen gegen Microsoft an.
Der Stein des Anstoßes: Microsoft hatte seinem Browserkonkurrenten Netscape Navigator ein Bein gestellt, als es PC-Hersteller verpflichtete, seinen eigenen Browser, den Internet Explorer, in jedem Fall schon ab Werk zu installieren. Das hieß jedoch nicht, dass der Navigator nicht auch installiert werden konnte. Die Tonnen von Akten, die in den Prozessen geschrieben wurden, lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Ein Betriebssystem-Hersteller hatte sich erdreistet, seine eigenen Anwendungen anderen vorzuziehen.
Als 2007 das iPhone auf den Markt kam, war sein Design wesentlich restriktiver. Fremden Code ließ Apple auf dem neuen Smartphone gar nicht zu. Dass das ohne Murren akzeptiert wurde, lag daran, dass es sich um ein Telefon handelte. Die Handys der Konkurrenz waren ja auch geschlossene Systeme. Während wir von Computern erwarteten, dass sie offene Plattformen sein müssten, betrachteten wir Telefone als Geräte wie Radios, Fernseher oder Kaffemaschinen.
2008 veröffentlichte Apple dann ein Software-Entwicklungskit für das iPhone. Dritte konnten nun Programme dafür schreiben, genauso wie für Windows und Mac OS in all den Jahren zuvor. Doch etwas war nun anders: Die Nutzer konnten diese „Apps“ nur im App Store von Apple beziehen. Entwickler wiederum mussten sich bei Apple akkreditieren. Jede iPhone-Anwendung wurde genau geprüft, nach Standards, die sich höchstens daraus erschließen ließen, welche Apps durchgingen und welche durchfielen. Anwendungen, die Funktionen von Apple-Apps nachbildeten, waren zum Beispiel nicht zugelassen.
Das Vergehen, für das zuvor Microsoft verklagt worden war, wiederholte sich, nur schlimmer. Diesmal ging es nicht darum, ob man sich ein iPhone ohne den Safari-Browser von Apple kaufen konnte. Nein, es war erst einmal gar kein anderer Browser auf dem iPhone erlaubt, es sei denn Apple duldete ihn. Damit nicht genug, kassierte das Unternehmen 30 Prozent eines jeden App-Preises (und später auch der Erlöse, die mit einer App gemacht wurden). Nicht einmal Microsoft wäre zu seinen Hochzeiten auf die Idee gekommen, eine Art Steuer für jede Software zu erheben, die für Windows geschrieben wurde. Was allerdings auch daran gelegen haben mag, dass Internetzugänge damals noch nicht verbreitet genug waren, um Käufe und Lizenzprüfungen online abzuwickeln.
Nun konnte man 2008 durchaus der Meinung sein, dass die Politik von Apple nicht so dramatisch sei wie die von Microsoft in den Neunzigern. Erstens hatte Apple bei Smartphones einen Marktanteil, der nicht im geringsten an die Dominanz von Microsoft bei Betriebssystemen heranreichte. Zweitens: War ein teilweise offenes iPhone nicht besser als das geschlossene iPhone vom Vorjahr? Dritter Punkt: Auch wenn Apple immer wieder Apps ablehnte, wurden doch Tausende, nein Hunderttausende zugelassen. Und schließlich gab es auch einen guten Grund für Apples Kontrollbestreben: Sicherheit. Malware hatte schließlich die PC-Welt längst überschwemmt. Ein falscher Klick, und schon hatte ein Virenschreiber Zugriff auf den Inhalt eines PCs. Das wollte Apple unbedingt verhindern.
Ende 2008 schien sich die Lage weiter zu entspannen, als der Android Marketplace von Google eröffnete. Plötzlich bekam Apple Konkurrenz, mit einem offeneren App-Entwicklungsmodell, das nicht so von Paranoia geprägt war wie das von Apple. Zwar mussten sich Entwickler anmelden, konnten dann aber ihre Software ohne Begutachtung durch Google online anbieten. Die 30-Prozent-Steuer erhob Google zwar ebenfalls, und Apps konnten auch wieder aus dem Marketplace verbannt werden. Aber es gab und gibt ein großes Sicherheitsventil in dem System: Entwickler können ihre Apps auch direkt an die Gerätehersteller verkaufen. Wenn sie mit den Geschäftsbedingungen des Marketplace nicht einverstanden sind, müssen sie nicht darauf verzichten, Android-Nutzer zu erreichen. Der Marktanteil von Android an mobilen Betriebssystemen ist heute deutlich höher als der von Apples iOS.
Wenn sich also in den vergangenen vier Jahren alles so zum Positiven entwickelt hat, warum sollten wir uns dann Sorgen machen? Aus mehreren Gründen. Einer ist die Übertragbarkeit des iPhone-Modells. Das App-Store-Konzept ist nämlich inzwischen auch auf dem PC angekommen. Und der Mac App Store ist ebenso restriktiv wie der für iPhones und iPads. Was auf einem Handy noch normal erscheinen mag, wirkt auf einem Rechner seltsam.
Mac-Apps dürfen zum Beispiel nicht das Aussehen der Mac-Oberfläche verändern – verfügt eine Firma, die einmal eine Werbekampagne mit dem Motto „Think different“ gemacht hatte. Entwickler dürfen auch kein Icon für ihre App auf dem Schreibtisch oder im Dock ablegen, ohne dass der Nutzer dies explizit erlaubt. Ebensowenig dürfen sie Apps anbieten, die Funktionen enthalten, die schon im Store angeboten werden. Schließlich dürfen sie ihr Werk nicht unter einer Lizenz für Freie Software vertreiben, weil sich dies mit Apples Lizenzmodell beißt.
Ein zweiter Grund zur Besorgnis ist die Beschränkung von Inhalten. Selbst auf der Höhe seiner Marktmacht konnte Microsoft nicht entscheiden, welche Software auf Windows laufen darf und welche nicht, geschweige denn welche Inhalte das Licht des Bildschirms erblicken dürfen. Ganz anders beim iPhone: Die App des preisgekrönten Karikaturisten Mark Fiore etwa lehnte Apple mit der Begründung ab, der „Inhalt verspotte Personen des öffentlichen Lebens“. Weil Fiore so bekannt war, sorgte dies für einen gewissen Wirbel, so dass Apple seine Entscheidung rückgängig machte.
Das Zulassungsprocedere von Apps verschleiert allerdings, worum es wirklich geht: Das Geschäft von IT-Unternehmen besteht jetzt auch darin, Texte, Bilder und Töne zu genehmigen – und das auch noch einzeln. Sie bestimmen, was wir auf den wichtigsten Portalen der Welt finden und nutzen können. Wollen wir das etwa? Warum glauben wir, dass sich dieses Problem durch die Konkurrenz von Unternehmen erledigt, wenn jedes die Macht zum Zensieren hat?
Das Ganze ist umso beunruhigender, als die Regierungen gemerkt haben, dass dieses Konzept eine Zensur viel einfacher macht. War es vorher eine Sysyphus-Arbeit, all die Bücher, Traktate und Webseiten unter Kontrolle zu halten, genügen jetzt ein paar Anordnungen an die digitalen Torhüter wie Apple oder Google, um unliebsame Inhalte zu entfernen. Die Arbeit erledigt jetzt das IT-Unternehmen als Mittelsmann. Als etwa Exodus International eine App mit homophoben Inhalten herausbrachte, begnügten sich die Gegner nicht damit, die App schlecht zu bewerten. Sie reichten bei Apple eine Petition ein, die App zu entfernen – was Apple schließlich tat.
Sicher, Software für den Mac und Inhalte bekommt man nicht nur über den Mac App Store. Auch kann man auf iPhone und iPad mit dem Browser beliebige Inhalte aufrufen. Und niemand erwartet, dass Apple bestimmt, welche Webseiten mit Safari aufzurufen sind. Dann sei aber die Frage an die Gegner von Exodus International gestattet: Sollte Apple nicht deren Seite aus dem Browser genauso entfernen wie deren App? Wenn nicht, wo ist dann der Unterschied? Technisch ist es für Apple kein Problem, eine Webseite zu blockieren. Und was für einen Sinn ergibt es, wenn die Folgen der TV-Serie South Park in iTunes heruntergeladen werden können, aber die South Park App aus dem App Store verbannt wurde?
Warum beherrschen eigentlich die App Stores und die Android Marketplaces den Markt, wenn man doch auch anderswo Anwendungen bekommen kann? Was macht sie so wichtig, dass Entwickler die Genehmigungsprozedur auf sich nehmen und auf 30 Prozent ihres Umsatzes verzichten, anstatt ihre Apps direkt zu verkaufen? Zwar ist fremder Code auf dem iPhone nicht zugelassen, aber Entwickler könnten in vielen Fällen dieselbe Funktion über eine Webseite im Safari-Browser anbieten. Nur wenige machen dies.
Die Financial Times ist einer der wenigen Content-Anbieter, der seine App aus dem App Store wieder zurückgezogen hat. Das Blatt wollte seine Kundendaten und Einnahmen nicht mit Apple teilen. Viele sind dem Beispiel bisher nicht gefolgt. Warum?
Die Antwort könnte sein, dass schon ein oder zwei Extraklicks Nutzer von dem abbringen, was sie ursprünglich im Netz anschauen wollten. Im Microsoft-Fall wurde hervorgehoben, dass das Symbol des Internet Explorers auf dem Schreibtisch Nutzer davon abgehalten habe, Netscape runterzuladen und zu installieren. Voreinstellungen sind mächtig – was auch die Summen der Deals darüber bestätigen, welche Suchmaschine in einem Browser als Default eingestellt wird. Der Firefox-Hersteller Mozilla macht mit der „Vermietung“ des Suchfensters 97 Prozent seines Umsatzes. Das theoretische Gegengewicht alternativer Apps hilft wenig, wenn Nutzer ohne jede Anstrengung die App Stores und Marketplaces ansteuern, um an ihre Anwendungen zu kommen.
Angesichts der Unmengen an Malware ist Sicherheit ein weiterer Beweggrund, die Kontrolle an den Hersteller des Betriebssystems abzugeben. Der Mac App Store wird zum Beispiel bald das Sandbox-Konzept einführen: Apps müssen dann in einer eigenen geschützten Umgebung – der „Sandbox“ – auf dem Rechner laufen, um diesen nicht infizieren oder schädigen zu können.
Tatsache ist, dass die Entwickler von heute ihre Code nicht nur schreiben, dass er bei Verbrauchern ankommt, sondern auch bei Geräteverkäufern. Wer etwas Cooles vorzuweisen hat, möchte dies natürlich im Android Marketplace oder iOS App Store angeboten sehen. Keiner der beiden kann den jeweils anderen ersetzen. Beide binden den Entwickler in einer langfristigen Beziehung an den Betriebssystem-Verkäufer. Beim Nutzer ist es genauso: Wenn ich vom iPhone zu einem Android-Gerät wechsle, kann ich meine Apps nicht mitnehmen, und umgekehrt. Und da Inhalte von Apps geliefert werden, kann ich nicht einmal meine Inhalte mitnehmen. Es sei denn, ein anderer Torhüter wie Amazon bietet seine Inhalte plattformübergreifend an. Aber im Prinzip könnte Amazon irgendwann versuchen, dasselbe zu machen wie Apple, Google oder Microsoft.
Der Siegeszug von PC und Web hat Innovation und Kommunikation zu einer neuen Blüte verholfen. Software wurde auf vielen Maschinen installiert und verband Entwickler mit Millionen von Nutzern. Webseiten konnten überall erscheinen und verbanden Webmaster mit Millionen von Websurfern.
Heute hingegen ballen sich die Aktivitäten auf einer Handvoll von Portalen. Zwei, drei Betriebssystem-Hersteller sind in der Position, sämtliche Apps und deren Inhalte zu verwalten, und eine kleiner werdende Gruppe von Cloud-Dienste-Anbietern ermöglicht Webseiten oder Blogs, die vor Denial-of-Service- Problemen geschützt sind.
Doch sowohl Entwickler als auch Nutzer sollten fordernder sein. Entwickler sollten nach Wegen Ausschau halten, wie sie ohne Beschränkungen ihre Nutzer erreichen können, über offene Plattformen oder durch Druck auf die Geschäftsbedingungen der geschlossenen Plattformen.
Nutzer wiederum sollten sich öfter auf alternative Apps einlassen und die Plattformen, die sie noch anbieten – und damit den Geist des PC-Konzepts hochhalten. Ergänzt um Systeme, die Apps erst einmal Testläufe machen lassen, bevor die auf das ganze System zugreifen können. Wenn wir von den Annehmlichkeiten in eingemauerten Gärten einlullen lassen, verpassen wir die Innovationen, die die Gärtner aussperren. Und wir ermöglichen eine Zensur von Code und Inhalten, die früher nicht möglich war. Wir brauchen endlich ein paar wütende Nerds.
Jonathan Zittrain ist Professur für Recht und Informatik an der Harvard University und Autor des Buches „The Future of the Internet – and how to stop it“.
Quelle: http://www.heise.de/tr/artikel…etende-Nerds-1397391.html